Sprache des Dokuments : ECLI:EU:C:1999:307

URTEIL DES GERICHTSHOFES

15. Juni 1999 (1)

„Artikel 234 EG (früher Artikel 177) — EWR-Abkommen — Zuständigkeit des Gerichtshofes — Beitritt zur Europäischen Union — Richtlinie 80/987/EWG — Haftung des Staates“

In der Rechtssache C-321/97

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG (früher Artikel 177) vom Stockholms tingsrätt (Schweden) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Ulla-Brith Andersson und Susanne Wåkerås-Andersson

gegen

Svenska staten (Schwedischer Staat)

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 6 des am 2. Mai 1992 unterzeichneten und mit dem Beschluß 94/1/EGKS, EG des Rates und der Kommission vom 13. Dezember 1993 über den Abschluß des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten sowie der Republik Österreich, der Republik Finnland, der Republik Island, dem Fürstentum Liechtenstein, dem Königreich Norwegen und dem Königreich Schweden (ABl. 1994, L 1, S. 1) genehmigten Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum sowie der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der

Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 23)

erläßt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet, G. Hirsch und P. Jann sowie der Richter J. C. Moitinho de Almeida, C. Gulmann, J. L. Murray, D. A. O. Edward, H. Ragnemalm, L. Sevón (Berichterstatter) und M. Wathelet,

Generalanwalt: G. Cosmas


Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

—    des schwedischen Staates, vertreten durch Hans Regner, Justitiekansler, als Bevollmächtigten im Beistand von Rechtsanwalt Gun Löfgren Cederberg, Stockholm,

—    der schwedischen Regierung, vertreten durch Lotty Nordling, Rättschef für EU-Fragen im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigte,

—    der französischen Regierung, vertreten durch Kareen Rispal-Bellanger, Leiterin der Abteilung für internationales Wirtschaftsrecht und Gemeinschaftsrecht in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und Claude Chavance, Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,

—    der norwegischen Regierung, vertreten durch Jan Bugge-Mahrt, stellvertretender Generaldirektor im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,

—    der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch die Rechtsberater John Forman und Christina Tufvesson als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Andersson und Frau Wåkerås-Andersson, vertreten durch Rechtsanwalt Allan Stutzinsky, Göteborg, des schwedischen Staates, vertreten durch Hans Regner, der schwedischen Regierung, vertreten durch Lotty Nordling, der französischen Regierung, vertreten durch

Claude Chavance, der isländischen Regierung, vertreten durch Martin Eyjólfsson, Rechtsberater in der diplomatischen Vertretung Islands bei der Europäischen Union, als Bevollmächtigten, der norwegischen Regierung, vertreten durch Jan Bugge-Mahrt, und der Kommission, vertreten durch John Forman und Christina Tufvesson, in der Sitzung vom 11. November 1998,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Januar 1999,

folgendes

Urteil

1.
    Das Stockholms tingsrätt hat mit Beschluß vom 15. September 1997, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 17. September 1997, gemäß Artikel 234 EG (früher Artikel 177) drei Fragen nach der Auslegung von Artikel 6 des am 2. Mai 1992 unterzeichneten und mit dem Beschluß 94/1/EGKS, EG des Rates und der Kommission vom 13. Dezember 1993 über den Abschluß des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten sowie der Republik Österreich, der Republik Finnland, der Republik Island, dem Fürstentum Liechtenstein, dem Königreich Norwegen und dem Königreich Schweden (ABl. 1994, L 1, S. 1) genehmigten Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (im folgenden: EWR-Abkommen) sowie der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 23) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2.
    Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Andersson und Frau Wåkerås-Andersson (im folgenden: Klägerinnen) und dem schwedischen Staat, gegen den die Klägerinnen wegen nicht ordnungsgemäßer Umsetzung der Richtlinie 80/987, auf die in Anhang XVIII Nummer 24 des EWR-Abkommens Bezug genommen wird, Haftungsansprüche geltend machen.

Rechtlicher Rahmen

3.
    Gemäß Artikel 2 Buchstabe b des EWR-Abkommens bedeutet im Rahmen dieses Abkommens der Begriff „.EFTA-Staaten': die Vertragsparteien, die Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation sind“.

4.
    Artikel 6 des EWR-Abkommens lautet:

„Unbeschadet der künftigen Entwicklungen der Rechtsprechung werden die Bestimmungen dieses Abkommens, soweit sie mit den entsprechenden Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie der aufgrund dieser beiden Verträge erlassenen Rechtsakte in ihrem wesentlichen Gehalt identisch sind, bei ihrer Durchführung und Anwendung im Einklang mit den einschlägigen Entscheidungen ausgelegt, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens erlassen hat.“

5.
    Artikel 7 des EWR-Abkommens sieht vor:

„Rechtsakte, auf die in den Anhängen zu diesem Abkommen oder in den Entscheidungen des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Bezug genommen wird oder die darin enthalten sind, sind für die Vertragsparteien verbindlich und Teil des innerstaatlichen Rechts oder in innerstaatliches Recht umzusetzen, und zwar wie folgt:

...

b)    Ein Rechtsakt, der einer EWG-Richtlinie entspricht, überläßt den Behörden der Vertragsparteien die Wahl der Form und der Mittel zu ihrer Durchführung.“

6.
    Das Protokoll 34 des EWR-Abkommens zur Möglichkeit für Gerichte und Gerichtshöfe der EFTA-Staaten, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften um Entscheidung über die Auslegung von EWR-Bestimmungen zu ersuchen, die EG-Bestimmungen entsprechen (ABl. 1994, L 1, S. 204), bestimmt:

Artikel 1

Ergibt sich in einer Rechtssache, die bei einem Gericht oder Gerichtshof eines EFTA-Staates anhängig ist, eine Frage nach der Auslegung von Bestimmungen des Abkommens, die in ihrem wesentlichen Gehalt identisch sind mit Bestimmungen der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften in ihrer geänderten oder ergänzten Fassung oder der aufgrund dieser Verträge erlassenen Rechtsakte, so kann das Gericht oder der Gerichtshof, sofern er dies für erforderlich hält, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ersuchen, über eine solche Frage zu entscheiden.

Artikel 2

Ein EFTA-Staat, der beabsichtigt, von diesem Protokoll Gebrauch zu machen, teilt dem Verwahrer und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit, inwieweit und nach welchen Modalitäten das Protokoll für seine Gerichte und Gerichtshöfe gilt.“

7.
    Artikel 108 Absatz 2 Unterabsatz 1 des EWR-Abkommens lautet: „Die EFTA-Staaten setzen einen Gerichtshof (EFTA-Gerichtshof) ein.“

8.
    Artikel 34 des am 2. Mai 1992 geschlossenen Abkommens zwischen den EFTA-Staaten zur Errichtung einer Überwachungsbehörde und eines Gerichtshofs (ABl. 1994, L 344, S. 1; im folgenden: EFTA-Überwachungsabkommen) bestimmt:

„Der EFTA-Gerichtshof erstellt Gutachten über die Auslegung des EWR-Abkommens.

Wird eine derartige Frage einem Gericht eines EFTA-Staates gestellt, und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem EFTA-Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

...“

9.
    Nach dem am 28. September 1994 zwischen den EFTA-Staaten geschlossenen Agreement on Transitional Arrangements for a Period after the Accession of certain EFTA States to the European Union (Abkommen über Übergangsregelungen für einen Zeitraum nach dem Beitritt bestimmter EFTA-Staaten zur Europäischen Union) können die nationalen Gerichte der EFTA-Staaten, die der Europäischen Union beitreten, in Verfahren, in denen sich die zugrundeliegenden Tatsachen vor dem Beitritt ereigneten, nach diesem Beitritt den EFTA-Gerichtshof ersuchen, über die Auslegung des EWR-Abkommens zu entscheiden. Aus Artikel 5 dieses Abkommens ergibt sich, daß der EFTA-Gerichtshof in der Zusammensetzung, in der er vor dem Beitritt bestanden hatte, weiterhin zuständig war für Klagen, die bis zum 31. März 1995 eingereicht wurden.

10.
    Die Richtlinie 80/987, die ein System zum Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers vorsieht, bestimmt in Artikel 1 Absätze 1 und 2:

„(1)    Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind.

(2)    Die Mitgliedstaaten können die Ansprüche bestimmter Gruppen von Arbeitnehmern wegen der besonderen Art des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses der Arbeitnehmer oder wegen des Bestehens anderer Garantieformen, die den Arbeitnehmern einen Schutz gewährleisten, der dem sich aus dieser Richtlinie ergebenden Schutz gleichwertig ist, vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausnahmsweise ausschließen.

Die Liste der in Unterabsatz 1 genannten Gruppen von Arbeitnehmern befindet sich im Anhang.“

11.
    Anhang XVIII Nummer 24 des EWR-Abkommens verweist auf die Richtlinie 80/987. Danach wird der Anhang der Richtlinie im Hinblick auf das Königreich Schweden in der Weise angepaßt, daß u. a. „Beschäftigte bzw. Hinterbliebene von Beschäftigten, die alleine oder zusammen mit nahen Verwandten Eigentümer eines wesentlichen Teils des Unternehmens bzw. Geschäftsbetriebes des Arbeitgebers waren und wesentlichen Einfluß auf die Betriebstätigkeit hatten“, vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind.

12.
    Artikel 168 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1; im folgenden: Beitrittsakte) lautet:

„Sofern in der Liste des Anhangs XIX oder in anderen Bestimmungen dieser Akte nicht eine Frist vorgesehen ist, setzen die neuen Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen in Kraft, um den Richtlinien ... im Sinne des Artikels [249 EG (früher Artikel 189)] ... vom Beitritt an nachzukommen.“

13.
    Nach § 7 lönegarantilagen (1992:497) (Lohngarantiegesetz) wurden aufgrund der Garantie Zahlungen zur Befriedigung von Lohn- oder Entschädigungsforderungen geleistet, die nach § 12 förmånsrättslagen (1970:979) (Gesetz über die abgesonderte Befriedigung) bevorrechtigt waren. Nach § 12 letzter Absatz förmånsrättslagen in der zur Zeit der maßgebenden Ereignisse geltenden Fassung hatten jedoch Arbeitnehmer, die selbst oder zusammen mit einer nahestehenden Person in den letzten sechs Monaten vor dem Antrag auf Konkurseröffnung mindestens zu 20 % an dem Unternehmen beteiligt waren, keinen Anspruch auf abgesonderte Befriedigung. Dies galt auch, wenn eine dem Arbeitnehmer nahestehende Person entsprechend beteiligt war.

14.
    Das vorlegende Gericht führt dazu aus, daß die Beteiligung einer dem Arbeitnehmer nahestehenden Person dazu geführt habe, daß der Arbeitnehmer für eine Entschädigung aufgrund der Lohngarantie nicht in Betracht gekommen sei, auch wenn er selbst an dem Unternehmen nicht beteiligt gewesen sei.

15.
    Eine Gesetzesänderung zur Herstellung einer größeren Konformität zwischen den schwedischen Vorschriften über den Schutz der Arbeitnehmer im Konkursfall und den Ansprüchen aus der Richtlinie 80/987 sei am 1. Juni 1997 in Kraft getreten.

Das Ausgangsverfahren

16.
    Die Klägerinnen waren bei der Aktiengesellschaft Kinna Installationsbyrå beschäftigt, als das Unternehmen am 17. November 1994 in Konkurs fiel. Per-Arne Andersson, Sohn der Klägerin Andersson und Ehemann der Klägerin Wåkerås-Andersson, war Eigentümer des gesamten Kapitals und Alleingeschäftsführer dieser Gesellschaft.

17.
    Der Konkursverwalter lehnte die Lohngarantie für die Klägerinnen unter Berufung auf § 7 lönegarantilagen und § 12 letzter Absatz förmånsrättslagen ab, weil siePer-Arne Andersson nahestünden.

18.
    Daraufhin erhoben die Klägerinnen beim Stockholms tingsrätt Klage gegen den schwedischen Staat auf Schadensersatz in Höhe von 60 152 SKR und 32 732 SKR zuzüglich Zinsen in der gesetzlichen Höhe.

19.
    Sie trugen vor, daß der schwedische Staat nach den Rechtsgrundsätzen, die der Gerichtshof insbesondere im Urteil vom 19. November 1991 in den Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357) anerkannt habe, das im Rahmen des EWR-Abkommens gemäß dessen Artikel 6 anwendbar sei, zum Ersatz des Schadens verurteilt werden müsse, der ihnen aufgrund der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie 80/987 entstanden sei.

20.
    Der schwedische Staat vertrat dagegen die Ansicht, daß für das Königreich Schweden vor seinem Beitritt zur Europäischen Union nicht die Verpflichtung bestanden habe, für die Vereinbarkeit des schwedischen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht zu sorgen, deren Nichterfüllung zum Schadensersatz führen und vor einem schwedischen Gericht geltend gemacht werden könne. Ebensowenig könnten die Verpflichtungen des Königreichs Schweden aus dem EWR-Abkommen, die völkerrechtlicher Natur seien, zu einer Schadensersatzpflicht des schwedischen Staates gegenüber einzelnen führen.

21.
    Das vorlegende Gericht führt in seiner Vorlageentscheidung aus, daß den Klägerinnen die Lohngarantie zugute gekommen wäre, wenn die betreffende schwedische Regelung der Richtlinie 80/987 und dem Anhang XVIII Nummer 24 des EWR-Abkommens entsprochen hätte, da die Klägerinnen nicht zu der Gruppe von Arbeitnehmern gehört hätten, für die diese Richtlinie nicht gegolten habe.

22.
    Unter diesen Umständen hat das Stockholms tingsrätt das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende drei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.    Ist Artikel 6 des EWR-Abkommens so auszulegen, daß die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften u. a. in den Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 aufgestellten Rechtsgrundsätze Bestandteil des EWR-Rechts geworden sind und ein Staat infolgedessen gegenüber dem einzelnen schadensersatzpflichtig werden kann, weil er die Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (Lohngarantierichtlinie) zu der Zeit, als er nur dem EWR-Abkommen beigetreten war, aber nicht Mitglied der Europäischen Union war, nicht ordnungsgemäß umgesetzt hatte?

2.    Wenn die Frage 1 zu bejahen ist: Ist Artikel 6 des EWR-Abkommens so auszulegen, daß die Lohngarantierichtlinie sowie die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften u. a. in den Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 aufgestellten Rechtsgrundsätze dem nationalen Recht vorgehen, wenn der Staat diese Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat?

3.    Wenn die Frage 1 zu verneinen ist: Haben die Lohngarantierichtlinie und die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in den Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 aufgestellten Rechtsgrundsätze aufgrund des Beitritts des Staates zur Europäischen Union Vorrang vor dem nationalen Recht, auch wenn es um Ereignisse aus der Zeit geht, in der der Staat nur dem EWR-Abkommen beigetreten war, aber noch nicht Mitglied der Europäischen Union war, sofern der Staat die genannte Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat?

Zur ersten Vorlagefrage

23.
    Die erste Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob nach dem EWR-Abkommen die Haftung eines EFTA-Staates, der danach Mitgliedstaat der Europäischen Union geworden ist, für Schäden, die dem einzelnen durch die nicht ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie 80/987 entstanden sind, gemäß den insbesondere im Urteil Francovich u. a. aufgestellten Rechtsgrundsätzen begründet werden kann.

24.
    Der schwedische Staat, die schwedische, die isländische und die norwegische Regierung sowie die Kommission tragen vor, daß der Gerichtshof nicht zuständig sei, nach Artikel 234 EG über die Auslegung des EWR-Abkommens zu befinden, da der Staat, dem das vorlegende Gericht angehöre, zur Zeit der im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse kein Mitgliedstaat der Europäischen Union, sondern ein EFTA-Staat gewesen sei.

25.
    Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens und die französische Regierung machen dagegen geltend, daß der Gerichtshof von einem Gericht eines Mitgliedstaats angerufen werde und daß das EWR-Abkommen integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sei (vgl. Urteil vom 30. April 1974 in der Rechtssache 181/73, Haegeman, Slg. 1974, 449). Der Gerichtshof sei daher zur Vorabentscheidung über die Auslegung des EWR-Abkommens befugt.

26.
    Es ist daran zu erinnern, daß ein vom Rat gemäß den Artikeln 228 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 300 EG) und 310 EG (früher Artikel 238) geschlossenes Abkommen für die Gemeinschaft die Handlung eines Gemeinschaftsorgans im Sinne des Artikels 234 Absatz 1 Buchstabe b EG darstellt, daß die Bestimmungen eines solchen Abkommens von dessen Inkrafttreten an integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind und daß der Gerichtshof in dem durch diese Rechtsordnung gesteckten Rahmen zur Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Abkommens befugt ist (vgl. Urteil

vom 30. September 1987 in der Rechtssache 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Randnr. 7).

27.
    Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich zur Vorabentscheidung über die Auslegung des EWR-Abkommens befugt, wenn eine solche Frage vor einem Gericht eines Mitgliedstaats aufgeworfen wird.

28.
    Diese Zuständigkeit für die Auslegung des EWR-Abkommens im Rahmen des Artikels 234 EG gilt jedoch nur in bezug auf die Gemeinschaft, so daß der Gerichtshof zur Auslegung dieses Abkommens im Hinblick auf seine Anwendung in den EFTA-Staaten nicht befugt ist.

29.
    Eine solche Zuständigkeit ist dem Gerichtshof auch nicht im Rahmen des EWR-Abkommens übertragen worden. Aus den Artikeln 108 Absatz 2 des EWR-Abkommens und 34 des EFTA-Überwachungsabkommens ergibt sich nämlich, daß für Entscheidungen über die Auslegung des in den EFTA-Staaten geltenden EWR-Abkommens der EFTA-Gerichtshof zuständig ist. Das EWR-Abkommen enthält keine Bestimmung, die eine parallele Zuständigkeit des Gerichtshofes vorsieht. Allerdings können die EFTA-Staaten nach Artikel 107 des EWR-Abkommens und dem Protokoll 34 ihren Gerichten gestatten, unter bestimmten Voraussetzungen den Gerichtshof zu ersuchen, über die Auslegung einer Bestimmung des EWR-Abkommens zu entscheiden, doch ist von dieser Möglichkeit bis jetzt noch nicht Gebrauch gemacht worden.

30.
    Daß der betreffende EFTA-Staat danach Mitgliedstaat der Europäischen Union geworden ist und die Frage somit von einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt wird, kann nicht zur Folge haben, daß dem Gerichtshof eine Zuständigkeit für die Auslegung des EWR-Abkommens im Hinblick auf dessen Anwendung auf Sachverhalte, die nicht der Gemeinschaftsrechtsordnung unterliegen, verliehen wird.

31.
    Die Zuständigkeiten des Gerichtshofes umfassen nämlich die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, dessen integrierender Bestandteil das EWR-Abkommen ist, in bezug auf die Anwendung des Abkommens in den neuen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt des Beitritts an.

32.
    In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof ersucht worden, unmittelbar über die Auswirkungen des EWR-Abkommens in der nationalen Rechtsordnung des vorlegenden Gerichts in der Zeit vor diesem Beitritt zu entscheiden.

33.
    Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß der Gerichtshof für die Beantwortung der ersten Frage nicht zuständig ist.

Zur zweiten Vorlagefrage

34.
    In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Frage.

Zur dritten Vorlagefrage

35.
    Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob sich der einzelne nach dem Beitritt eines EFTA-Staates zur Europäischen Union vor den nationalen Gerichten dieses neuen Mitgliedstaats auf Rechte berufen kann, die er unmittelbar aus der Richtlinie 80/987 herleitet, und ob die Haftung dieses Staates für Schäden, die dem einzelnen durch die nicht ordnungsgemäße Umsetzung dieser Richtlinie entstanden sind, ausgelöst werden kann, wenn die im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse in der Zeit vor dem Beitritt stattgefunden haben.

36.
    Der schwedische Staat trägt vor, aus den Artikeln 166 und 168 der Beitrittsakte ergebe sich, daß die Verpflichtungen des Königreichs Schweden als Mitgliedstaat der Europäischen Union erst im Zeitpunkt des Beitritts wirksam geworden seien.

37.
    Die schwedische Regierung fügt hinzu, daß die Beitrittsakte keine Bestimmung enthalte, wonach das Gemeinschaftsrecht rückwirkend auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anwendbar sei. Außerdem sei das Urteil vom 2. Oktober 1997 in der Rechtssache C-122/96 (Saldanha und MTS, Slg. 1997, I-5325) nicht einschlägig, da der Gerichtshof darin nur über eine Verfahrensvorschrift entschieden habe, die seit dem Beitritt der Republik Österreich in den sachlichen Anwendungsbereich des EG-Vertrags falle.

38.
    Die Kommission macht zum einen geltend, daß das Königreich Schweden in der Zeit vor dem Beitritt nicht verpflichtet gewesen sei, die Richtlinie 80/987 im Hinblick auf einen künftigen Beitritt zur Europäischen Union umzusetzen, so daß diese Richtlinie keinen Vorrang vor den einschlägigen schwedischen Rechtsvorschriften hätte haben können; zum anderen ergebe sich aus dem Urteil vom 3. Dezember 1992 in den Rechtssachen C-140/91, C-141/91, C-278/91 und C-279/91, Slg. 1992, I-6337), daß die Richtlinie auch nicht für Sachverhalte gelten könne, die vor dem Beitritt entstanden seien.

39.
    Zunächst ist festzustellen, daß diese Frage die Inanspruchnahme der Richtlinie 80/987 und die Begründung der Haftung des Staates allein aufgrund des Gemeinschaftsrechts und nicht nach dem EWR-Abkommen als solchem betrifft.

40.
    Nach Artikel 168 der Beitrittsakte setzen die neuen Mitgliedstaaten, sofern in der Liste des Anhangs XIX oder in anderen Bestimmungen dieser Akte keine Frist vorgesehen ist, die erforderlichen Maßnahmen in Kraft, um den Richtlinien vom Beitritt an nachzukommen.

41.
    Da in der Beitrittsakte für die Richtlinie 80/987 keine Umsetzungsfrist vorgesehen ist, mußte die Richtlinie im Zeitpunkt des Beitritts der neuen Mitgliedstaaten umgesetzt sein.

42.
    Die Anwendung der Richtlinie 80/987 ist vom Eintritt zweier Ereignisse abhängig: Erstens muß ein Antrag auf Eröffnung eines Verfahrens zur gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung bei der zuständigen nationalen Behörde eingereicht worden sein; zweitens muß eine Entscheidung über die Eröffnung oder die Feststellung, daß das Unternehmen stillgelegt ist, wenn die Vermögensmasse nicht ausreicht, ergangen sein. Der Eintritt dieser beiden Ereignisse löst die in der Richtlinie vorgesehene Garantie aus (vgl. Urteil vom 10. Juli 1997 in der Rechtssache C-373/95, Maso u. a., Slg. 1997, I-4051, Randnrn. 45 und 46).

43.
    In Anbetracht der Tatsache, daß sich diese beiden Ereignisse im Ausgangsverfahren vor dem Zeitpunkt des Beitritts des Königreichs Schweden zur Europäischen Union abgespielt haben, da das letzte dieser Ereignisse, die Anordnung des Konkurses, am 17. November 1994 erfolgt ist, kann sich der einzelne nicht auf die Richtlinie 80/987 berufen, um die Anwendung bestimmter Vorschriften des nationalen Rechts auszuschließen (vgl. Urteil Suffritti u. a., Randnr. 12). Ebensowenig kann sich der einzelne auf einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht berufen, der die Haftung des Staates begründet.

44.
    Der einzelne kann sich nämlich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nur dann, wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie bei Ablauf der für ihre Umsetzung vorgesehenen Frist nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, unter bestimmten Voraussetzungen vor den nationalen Gerichten auf Rechte berufen, die er unmittelbar aus dieser Richtlinie herleitet (vgl. Urteil Suffritti u. a., Randnr. 13).

45.
    Desgleichen kann nur dann, wenn die Ereignisse, durch die die in der Richtlinie 80/987 vorgesehene Garantie ausgelöst wird, nach Ablauf der Frist für deren Umsetzung stattgefunden haben, eine nicht ordnungsgemäße oder verspätete Umsetzung der Richtlinie geltend gemacht werden, um die Haftung des Staates für Schäden, die dem einzelnen entstanden sind, zu begründen.

46.
    Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, daß das Gemeinschaftsrecht weder verlangt, daß sich der einzelne nach dem Beitritt eines EFTA-Staates zur Europäischen Union vor den Gerichten dieses neuen Mitgliedstaats auf Rechte berufen kann, die er unmittelbar aus der Richtlinie 80/987 herleitet, noch, daß die Haftung dieses Staates für Schäden, die dem einzelnen durch die nicht ordnungsgemäße Umsetzung dieser Richtlinie entstanden sind, begründet werdenkann, wenn die Ereignisse, durch die die in der Richtlinie vorgesehene Garantie ausgelöst wird, vor dem Zeitpunkt des Beitritts stattgefunden haben.

Kosten

47.
    Die Auslagen des schwedischen Staates, der schwedischen, der französischen, der isländischen und der norwegischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Stockholms tingsrätt mit Beschluß vom 15. September 1997 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1.    Der Gerichtshof ist für die Beantwortung der ersten Frage nicht zuständig.

2.    Das Gemeinschaftsrecht verlangt weder, daß sich der einzelne nach dem Beitritt eines Staates der Europäischen Freihandelsassoziation zur Europäischen Union vor den Gerichten dieses neuen Mitgliedstaats auf Rechte berufen kann, die er unmittelbar aus der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers herleitet, noch, daß die Haftung dieses Staates für Schäden, die dem einzelnen durch die nicht ordnungsgemäße Umsetzung dieser Richtlinie entstanden sind, begründet werden kann, wenn die Ereignisse, durch die die in der Richtlinie vorgesehene Garantie ausgelöst wird, vor dem Zeitpunkt des Beitritts stattgefunden haben.

Rodríguez Iglesias
Puissochet
Hirsch

Jann

Moitinho de Almeida
Gulmann

Murray

Edward
Ragnemalm

        Sevón                    Wathelet

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juni 1999.

Der Kanzler

Der Präsident

R. Grass

G. C. Rodríguez Iglesias


1: Verfahrenssprache: Schwedisch.